D. Flückiger: Strassen für alle

Cover
Titel
Strassen für alle. Infrastrukturpolitik im Kanton Bern 1790–1850


Autor(en)
Flückiger, Daniel
Reihe
Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 88
Erschienen
Baden 2011: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Lukas Künzler

Das in der Reihe Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern erschienene Buch ist eine gekürzte und überarbeitete Version der an der Universität Bern eingereichten Dissertation von Daniel Flückiger. Thema der Arbeit ist der Wandel der staatlichen Infrastrukturpolitik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom selbsttragenden, profitablen Geschäft zu einem defizitären, aus allgemeinen Steuern finanzierten «service public» mit Fokus auf die damit einhergehenden politisch-administrativen Auseinandersetzungen.

Ausgangslage bildet die in der Forschung bislang vertretene These, nach der zentral organisierte Bürokratien diese moderne Infrastrukturpolitik massgeblich vorangetrieben haben; dabei wurde jeweils auf die Verhältnisse in grossen Staaten wie Grossbritannien verwiesen. Die Schweiz weist zwar im Strassenbau eine ähnliche Dynamik auf, sie gilt aber als eines derjenigen Länder, in dem die staatliche Verwaltung vergleichsweise spät aufgebaut wurde. Flückiger geht deswegen der Frage nach, inwiefern diese These auch für die hiesigen Verhältnisse Gültigkeit beanspruchen kann. Methodisch nähert er sich seinem Untersuchungsgegenstand mit einer quantitativen und qualitativen Komponente. Unter erstere fallen Fakten zu Strassennetzen und deren Finanzierung sowie eine Prosopografie der involvierten Akteure. Letztere umfasst zwei Fallbeispiele, nämlich der Bau der Simmentalstrasse und der Wannenfluhstrasse im Emmental.

Im Emmental dauerte es bis nach 1831, ehe das Projekt angegangen wurde – was nicht zuletzt auch damit zusammenhing, dass hier die betroffenen Gemeinden Skepsis signalisierten, da sie befürchteten, die Hauptlast beim Bau und Unterhalt aufbringen zu müssen. Dies war nicht unbegründet, denn der rentable Staat der Patrizier hatte einen grossen Teil der Ausgaben auf die lokale Ebene ausgelagert. Mit dem Regimewechsel und dem neuen Strassenbaugesetz von 1831 beziehungsweise 1834 änderte sich dies grundlegend: Die Ausgaben stiegen in die Höhe, die Zölle fielen weg. Entscheidend in der neuen Infrastrukturpolitik war die neue Rolle des Parlaments. Die Grossräte, die teilweise als Unternehmer über technisches Fachwissen verfügten und in den entsprechenden Kommissionen sassen, waren infolge ihrer engen Vernetzung mit den lokalen Eliten bestens informiert und forderten damit die Autorität der staatlichen Experten heraus. Ihnen ging es nun um die allgemeinen wirtschaftlichen Vorteile, wobei sie auch den lokalen Verkehr einbezogen. Zentral waren die ausgeglichene, regionale Verteilung und eine aus allgemeinen Steuern finanzierte Förderung der Wirtschaft. Das Parlament war gegenüber der Verwaltung keineswegs ohnmächtig: So kam das Strassengesetz gegen den Willen des fest angestellten kantonalen Ingenieurs zustande. Und mit den Ausführungen wurden regionale Unternehmer beauftragt, die über Erfahrungen mit dem Schwellenbau verfügten und deren Know-how demjenigen der externen Fachleute der Regierung in nichts nachstand.

Flückiger zeigt, dass sich die moderne Infrastrukturpolitik nicht aus der Umsetzung eines theoretischen Konzeptes ergab, sondern aus dem Zusammenspiel verschiedener Akteure. Dies konnte sich im Einzelfall sehr komplex gestalten, da ganz verschiedene Ebenen in einer wechselseitigen Beziehung zueinander standen: Nebst der Regierung, dem Parlament und den Regierungsstatthaltern sind zum einen die Gemeinden zu nennen, die zwar immer an guten Strassen interessiert waren, aber stets eine Vermehrung von Kosten und Arbeit möglichst vermeiden wollten; zum anderen die lokalen Eliten (zum Beispiel Käse-, Holz und Leinwandhändler), die auf Subskriptionslisten für Strassenbauten ihren Willen kundtaten. Sie waren es wohl, welche am meisten profitierten: Bislang hatten sie mit schlechten Strassen und den damit verbundenen hohen Transportkosten zu kämpfen, wobei die Zölle den Handelsertrag zusätzlich minderten. Allein für den Fernhandel hätte sich der Bau der Wannenfluhstrasse allerdings nicht gelohnt; das ungünstige Verhältnis zwischen aufgewendeten Investitionen und erzielten Einsparungen wurde nur deshalb in Kauf genommen, weil der infrastrukturpolitische Fokus auf den Regionalverkehr verlagert worden war. Gleichzeitig zahlten die lokalen Eliten wiederum nach der Ersetzung der vielfältigen Abgaben durch allgemeine Grundsteuern einen Teil ihres Mehrertrages an den Staat zurück. Dessen Haushalt wies gleichwohl nun ein Defizit aus – dafür gab es jetzt «Strassen für alle».

Flückigers Studie bietet reichen Erkenntnisgewinn, zum einen durch präzise Fragestellung, Quellenkritik und Quelleninterpretation, zum anderen durch die Behandlung von Themenfeldern wie der Technologie in Bezug auf die damaligen Möglichkeiten und Grenzen oder der Frage nach dem Umgang mit Eigentum oder dem Gemeinwerk und den damit einhergehenden staats- und gesellschaftsrechtlichen bzw. –philosophischen Aspekten.

Zitierweise:
Lukas Künzler: Rezension zu: Flückiger, Daniel: Strassen für alle. Infrastrukturpolitik im Kanton Bern 1790 – 1850. Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern, Bd. 88. Baden: hier + jetzt 2011. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 4, 2013, S. 64-66.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 4, 2013, S. 64-66.

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